Anwerbung

Arbeitssuchende vor der Österreichischen Anwerbekommission in Istanbul
Max Frisch schrieb, dass man Arbeitskräfte gerufen habe, aber Menschen gekommen seien. So stellte sich die Anwerbung von „Fremdarbeitern“ bzw. „Gastarbeitern“ in der Türkei als unpersönlich bis schikanös dar, ausgerichtet auf die „Selektion“ geeigneter ArbeiterInnen. In den „Türkentransporten“ fanden daher nur jene Platz, welche die Untersuchungen in Istanbul bei der seit 1964 bestehenden Österreichischen Anwerbekommission überstanden. Das in Karaköy angesiedelte Büro ließ die täglich Hunderten Arbeitssuchenden dabei auf der Straße anstehen und sodann in einer Nische des Warteraums ihre Blut- und Urinprobe abgeben. Später wurde von der Kommission selbst angemerkt, dass die ärztlichen Untersuchungen für Arbeitssuchende in der Türkei strenger waren als für StaatsbürgerInnen anderer Länder. Neben der anonymen Anwerbung war es auch möglich, dass ArbeitgeberInnen um die Genehmigung für namentlich benannte türkische StaatsbürgerInnen ansuchten. Bei ArbeiterInnen, die sich bewährt hatten, setzten sich Unternehmen immer wieder für deren Weiterbeschäftigung ein.

Mit dem „Infektionsfreiheitsschein“ wurde bestätigt, dass die ArbeiterInnen frei waren von ansteckenden Krankheiten, inkl. Geschlechtskrankheiten

Am Arbeitsplatz wandelte sich das unpersönliche Verhältnis des Öfteren. So setzte sich dieses Unternehmen für die Rückholung eines Arbeiters ein, der sich bewährt hatte, während seine Nachfolger „unbrauchbar“ waren.

Urin- und Blutproben mussten im Warteraum abgegeben werden

Der „6. Türkentransport“ ging 1964 nach Kärnten

Anreise und Ankommen

Für den Zugtransport wurden teilweise eigene Sonderzüge organisiert

Erste Reise nach Österreich

Viele Arbeitssuchende hatten bereits eine lange Anreise von ihren Heimatgemeinden nach Istanbul hinter sich, bevor sie auf den nächsten „Türkentransport“ nach Österreich warteten. In den ersten Jahren waren dies zweitägige Zugfahrten bis zum Wiener Südbahnhof, wo die ArbeiterInnen – versehen mit Namensschildern – von ihren neuen ArbeitgeberInnen abgeholt wurden. Dann begann die bisweilen ebenfalls lange Weiterreise, etwa bis Tirol oder Vorarlberg. Bahnhöfe fungierten vor der Etablierung eigener Vereinslokale als wichtige Begegnungsorte, an welchen sich Neuankömmlinge und hier lebende ArbeitsmigrantInnen austauschen konnten. Ab 1971 wurde die Reise aus der Türkei nach Österreich auch mit Bussen organisiert, welche die ArbeiterInnen direkt zu den Firmenstandorten brachten.

Die eigene Mobilität

Die Reise mit dem eigenen Auto in die Heimat wurde später zum sichtbaren Zeichen für den sozialen Aufstieg. An dieser „Gastarbeiterroute“ quer durch Europa entstand etwa einer der ersten muslimischen Gebetsräume in der Steiermark. Durch die kriegerischen Konflikte am Balkan in den 1990er Jahren änderte sich die Routenführung bzw. wurde vermehrt auf Billigfluglinien ausgewichen.


Chronologie

1971: Der erste Transport von Arbeitsmigranten mit dem Bus nach Österreich

Warten auf die Abfahrt mit dem Bus

Busfahrplan mit einzelnen Firmen als Fahrziele (1974)

Wiedersehen von Bekannten am Wiener Südbahnhof

Mit Namensschildern, damit man von den neuen ArbeitgeberInnen am Südbahnhof gefunden werden kann

Später ging es mit dem eigenen Auto in die Heimat

Das West-Auto als Prestigeobjekt in der Heimat

Wohnsituation

Jause in einer Baubaracke in Wien (1964)

Unterbringung in menschenunwürdigen Quartieren

Angekommen in Österreich waren die ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei damit konfrontiert, dass sie oft in unbeschreiblichen Verhältnissen entweder direkt in Arbeitsbaracken auf Firmenarealen oder in beengten, überbelegten Bruchbuden, gleichsam als erzwungene „Parallelgesellschaft“, untergebracht wurden. Zwar gab es aufgrund dieser diskriminierenden Praxis wiederholt aufrüttelnde Zeitungsartikel und Sozialreportagen, dennoch schien die Problemsicht bei der Mehrheitsbevölkerung gering ausgebildet gewesen zu sein. So ergab 1972 eine Untersuchung, dass es kein Mitleid gäbe für die Situation der „Gastarbeiter“, da man annahm dass die Wohnverhältnisse ähnlich seien zu jenen in ihren Heimatländern. Bereits 1973 forderten Wiener PolitikerInnen Gesetzesänderungen, um gegen den von skrupellosen VermieterInnen betriebenen Mietwucher und die Überbelegung vorgehen zu können.


Beengte Gastarbeiterwohnungen

Immer wieder nahmen sich Medien der Missstände an

Untersuchung des Gallup-Instituts zu den Rechtfertigungsgründen für die strukturelle Benachteiligung von ArbeitsmigrantInnen bei der Wohnsituation (1972)

Vorschläge einer Wiener Expertenkommission zur Verbesserung der Wohnsituation von „Gastarbeitern“ (1973)

Diskriminierung und Integration

1972: Telegramm an Bundeskanzler Kreisky: Wunsch nach der Einführung eines eigenen Feiertages am Ende des muslimischen Fastenmonats
In den ersten Jahrzehnten der Arbeitsmigration aus der Türkei war man sich des Beitrags der ausländischen ArbeiterInnen am Wirtschaftswachstum und Wohlstand sehr wohl bewusst und versuchte dies öffentlich darzustellen. Auch ging man gegen rassistisches und diskriminierendes Verhalten, etwa in Form von Zutrittsverboten zu Lokalen, von politischer Seite vehement vor. Schon in den 1970er Jahren machte der vermehrte Nachzug von Frauen und Kindern nach Österreich sichtbar, dass ein Teil der ArbeitsmigrantInnen in Österreich verbleiben wird. Es wurden daher bereits damals zahlreiche Überlegungen und Konzepte zur Eingliederung von ausländischen Kindern und Erwachsenen eingebracht. Aufgrund der gesetzlichen Verschärfungen im Gefolge der Wirtschaftkrise in der Mitte der 1970er-Jahre und dem Aufkommen rechtspopulistischer Parteien demonstrierten ausländische MitbürgerInnen etwa in den 1990ern wiederholt für mehr Rechte und Partizipation.

In einem Memorandum fragte die Industriellenvereinigung bereits 1971, ob Österreich offen sei für die Vergabe der österr. Staatsbürgerschaft an hier sesshaft gewordene ArbeitsmigrantInnen

1972: Bereits einige Jahrzehnte vor Antidiskriminierungsgesetzen in Österreich ging die Stadtgemeinde Wien mit Strafverfahren gegen Diskriminierungen von AusländerInnen im Gewerbebereich vor

Würdigung des Beitrags der ArbeitsmigrantInnen zum Wohlstand Österreichs aus wirtschaftlicher und aus kirchlicher Perspektive

Forderung nach dem Wahlrecht und dem Recht auf Einbürgerung

Wie Auswanderung die Türkei verändert

Viele „Gastarbeiter“ stammen aus kleinen türkischen Ortschaften. Aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit und politischer Konflikte versuchten sie, ihr Glück in den Industrieländern zu finden. An einem Dorf in Anatolien lässt sich exemplarisch zeigen, wie sich der Ort verändert hat, nachdem ein Großteil als ArbeitsmigrantInnen ins Ausland ging. Viele, die damals ihr Dorf auf der Suche nach Arbeit verlassen haben, haben ihre Häuser dort mit dem Ersparten ausgebaut. Die Häuser jener, die nicht zurückkamen, sind inzwischen Ruinen. Die RückkehrerInnen haben zudem viele kulturelle Einflüsse aus der „Fremde“ in die Türkei mitgebracht. Die zwischen ihren Heimaten pendelnden PensionistInnen verbringen einige Monate im Jahr im Dorf, die Jüngeren bleiben meist nur für kurze Zeit.
Wohnort heute Zahl der Familien
Großstadt in der Türkei 6
Deutschland 5
Österreich 3
England 1

Porträts

Mahmut Alban

Mahmut Alban

kam 1973 nach Österreich

Mahmut Alban
Ich habe 1986 die Firma gegründet, die es heute noch gibt. Ich bin nach Istanbul gefahren, um die nötige Ware zu kaufen, habe aber keine Ahnung vom Handel gehabt. Der Verkäufer im Laden hat für mich handgemachte Pullover ausgesucht. Ich bin am nächsten Tag mit dem Flugzeug nach Graz zurückgeflogen und habe die 150 Stück Pullover in ein Geschäft gebracht. Als die Frau dort die Pullover gesehen hat, hat sie alle gekauft.
Ich habe von Firmen Waren gekauft und wieder verkauft. Eines dieser Unternehmen war eine Textilfabrik in Niederösterreich. Als die Firma Konsum in Konkurs gegangen ist, habe ich ziemlich hohe Schulden bei diesem Unternehmen gehabt. Es war ein Familienbetrieb. Ich habe vier Schuldscheine vorbereitet gehabt. Der Sohn hat die Schuldscheine genommen und angeschaut. Dann hat er sie seinem Vater gegeben. Der hat sie genommen und zerrissen. Wir haben uns alle gegenseitig angeschaut. Der Vater hat sich mir zugewandt und gesagt: „Schau, junger Mann, du bist Ausländer, du hast Schulden bei mir. Hättest du vorgehabt wegzurennen, wärst du nicht mit diesen Schuldscheinen zu mir gekommen. „Fahr nach Graz zurück und arbeite weiter! Pass nur auf, jeder Verlust und Schaden zwingt den Menschen, viel vorsichtiger zu sein.“ Ich bin nach Graz zurück gefahren und habe meine Schulden so bezahlt, wie ich es auf die Schuldscheine geschrieben habe. Wir sind noch immer befreundet!




Mehmet & Güldane Balli

Mehmet & Güldane Balli

kamen 1972 und 1977 nach Österreich

Mehmet & Güldane Balli
Mehmet: Meine Mutter hat sich mit ein paar Frauen zusammen für Europa beworben. Diese arme Frau hat auch viel gelitten, weil sie auch nicht lesen und schreiben konnte. Meine Mutter hat nicht einmal gewusst, wie sie ihrem Mann eine Einladung für Europa schicken sollte. Durch Bitten und Betteln hat sie jemanden gefunden, der sich ausgekannt hat und ihnen eine Einladung verfasst hat. So hat sie es verschickt und mein Vater ist dann nachgekommen. Meine Mutter hat meinem Vater gesagt: „Komm in die Fabrik, ich werde dir eine Stelle finden.“ Er ist gegen Mittag in die Fabrik gegangen und als er den Schatten der Tannenbäume gesehen hat, hat er sich unter sie hingelegt. Meine Mutter hat sich während der Pause Sorgen gemacht. Nach etwas Aufregung hat sie ihren Mann unter dem Baum schlafend gefunden.

Güldane: In der Firma sind einmal Auszeichnungen mit den Namen von Mitarbeitern, die schon lange gearbeitet haben, überreicht worden. Zuerst wurden die aufgerufen, die seit fünf Jahren da gearbeitet haben, dann die, die seit zehn Jahren gearbeitet haben und dann die, die seit 25 Jahren da waren. Als ich dran gewesen bin, sind alle gestanden. Die Chefs, die Meister, die Journalisten, die Arbeiterkammer, alle waren da! Als ich auf die Bühne gegangen bin, habe ich mir Tränen aus dem Gesicht gewischt. Ich war so aufgeregt und sehr glücklich.




Portrait Fazli & Sülvet Aktas

Fazli & Sülvet Aktas

kamen 1964 und 1965 nach Österreich

Portrait Fazli & Sülvet Aktas
Wir haben bei einer Arbeit gekündigt und sofort eine neue gefunden. Manche Arbeitgeber haben uns sogar mehr Geld angeboten, damit wir für sie arbeiten. Es war nicht, weil sie uns gern gehabt haben. Es gab sehr viel Arbeit.
Ich und mein Mann haben in verschiedenen Betrieben gearbeitet. Mein Mann hat in einem Arbeiterwohnheim für Männer gewohnt. Ich war in einem Arbeiterwohnheim für Frauen. Dann habe ich gekocht und ihm etwas zu essen gebracht. Mit achtzehn Personen haben wir in einem Raum geschlafen. Es hat nur eine Küche gegeben. Jugoslawen und Türken haben an verschiedenen Tischen gegessen.
Wir haben zusammen gearbeitet, Geld gespart und beschlossen, ein Haus in der Türkei zu kaufen, damit wir unsere Kinder nicht hierher bringen müssen. Ich habe meinen Mann angefleht, die Kinder nicht hierherzubringen. Aber mein Mann hat gesagt, er wünsche sich, dass unsere Kinder eine gute Ausbildung erhalten.
So gut es dir hier auch geht, du bist wie eine Nachtigall eingesperrt in einem goldenen Käfig und sehnst dich nach der Heimat. Wir sind hier geblieben und sehnen uns nach dort. Wenn wir im Urlaub in die Türkei fahren und Edirne erreichen, fühlen wir uns wie neugeboren. Doch eine Woche, bevor unser Urlaub endet, sind wir schon von der Türkei gelangweilt. Wenn wir mit dem Zug in Graz ankommen, scheint die Sonne nur für uns zu scheinen.